Die Sezierung von Welt und Seele

 

Sinnloser Tag No. 1

 

Ein bereits alter neuer Tag beginnt und das Ich erwacht zu den vielfältigen Verheissungen schwindelerregender Schwermut in der Ersten Welt. Die schwelenden Regungen der Seele erinnern es von Neuem an die entfremdete Existenz, die sein Leben zu sein vorgibt. Dies ist die psychophysische Ausgangslage, von der aus meine nackten Füsse auf den doppelten Boden des wärmenden Wohlfahrtsstaates gesetzt werden. Ich öffne die Haustür und begrüsse das, was aus Mitteleuropa geworden ist. Vor meinen Augen die verzettelte Verstädterung, gleichgültig und grau, ich übergebe ihr einen übelriechenden Sack zivilisatorischen Abfalls, erleichtere meinen beklemmten Briefkasten, der sich mir bereitwillig übergibt, und kehre der Aussenwelt wieder den Rücken zu, gleichgültig und grau.

 

Das postalische Panorama, welches sich mir heute wieder bietet, bezeugt ungefähr, in welcher Welt ich lebe und vereitelt damit auch heute wieder die potentielle Hoffnung, eben genau dies einen Moment lang vergessen zu können. Wer da draussen hat an mich gedacht? Die Werbemaschinerie. Hochstapelweise Hochglanz voller giftiger Gemeinheiten und kommerzieller Kriminalität hat sie mir vor die Haustür gekotzt, wie gewohnt. Aber kann ich es den kapitalistischen Verbrecherorganisationen verübeln? Sie machen doch nur von ihrer Freiheit Gebrauch, den Weltenraum mit ihrer papiervertilgenden Plage irreversibel zuzumüllen, beim Versuch der Stimulation und Simulation einer perversen und unsinnigen Nachfrage nach irgendeiner betrügerischen Stumpfsinnigkeit, nach der andernfalls kein einziger halbwegs geistig gesunder Mensch weit und breit auf dem gesamten verdammten Planeten fragen würde. Dasselbe gilt für die penetrante Parteipropaganda, die derzeit wieder epidemisch in mein neutrales Wohngeviert hereinflattert und hartnäckig meine politische Ausgeglichenheit zu beschädigen versucht: Einfache Lösungen braucht das Volk! Alternativen braucht das Land! Und der Reisswolf, mein hungrig heulender Hausgefährte, braucht Futter!

 

Nachdem der Reisswolf, mein treuer Begleiter durch lange finstere Zeiten, sich satt gefressen hat, ist es still und leer um mich herum, und diese Stille und Leere in der Existenz, wie entfremdet auch immer, könnte gnadenvoll sein. Aber – da liegt ja noch die heutige Tageszeitung! Die Tageszeitung – ich weiss genau, dass ich davon lassen sollte, sogar dringendst davon lassen müsste, der brave Reisswolf knurrt auch schon in der Ecke, aber es ist unmöglich, davon zu lassen, denn nirgendwo sonst liegen geistige Belustigung und geistige Belästigung so gefährlich nahe nebeneinander wie bei meiner täglichen Lektüre der Tageszeitung. Es ist die tägliche Dosis Desolation, Resignation und Depression, ich weiss es genau, ich weiss es schon lange, ich weiss es absolut! Nur: Nichtwissen allein macht mittlerweile auch nicht mehr glücklich. Nicht zu diesem späten Zeitpunkt, nicht in diesem vorangeschrittenen Stadium der Sucht des Leidens am Leiden in der Welt, in welchem ich angelangt bin. Wie verfährt man aber im Falle einer hartnäckig festgefahrenen Situation und schweren Sucht, die einem zwar ausserordentlich schadet, aber die auf keine Weise wiedergutzumachen ist, da die Möglichkeit der Wiederherstellung des schadlosen Vorzustands für immer und ewig verloren ist? Indem man die Flucht nach vorn ergreift natürlich! Indem man noch mehr und noch mehr und noch mehr Zeitungen liest, mit dem leisen fatalistischen Trotz und der irrationalen Zuversicht, sich damit vielleicht irgendeinmal so sehr schaden zu können, dass die Möglichkeit der Beschädigung selbst beschädigt wird. Oder mit der unberechtigten Hoffnung, inmitten der Flut all der schlechten Nachrichten und miesen Meinungsmache plötzlich einen winzigen Funken Transzendenz aufglimmen zu sehen. Höchstwahrscheinlich im Wahnsinn. Doch auch heute glimmt da nichts auf. Nur die üblichen Berichterstattungen über eine Welt am Abgrund und eine Menschheit in den letzten Atemzügen, ergänzt durch die eloquenten Leserbriefe, Kommentare und Kolumnen jener hellsichtigen und aufgeweckten Mitbürgerinnen und Mitbürger, die am eingeschlagenen zivilisatorischen Kurs auch weiterhin nichts Unpässliches erkennen können und den ständigen hysterischen Alarmismus um Kriegsverbrechen, Klimawandel, Kapitalismuskrise und andere Schwulitäten scharfsinnigst als politische Propaganda von links entlarven, als Dauermeinungsterrorismus von Klimaforschern, Kulturschaffenden, Kommunisten und jeglicher Sorte Gutmenschen und Gesellschaftsschmarotzern, die in ihrem Leben noch nie gearbeitet haben, jedenfalls nicht richtig, die bloss schwatzen und labern können, und zwar immer das Falsche, immer nur Lügen, alles direkt von ihrer rotgrünbioökoveganmarxistischen Agenda ablesend, alles Lehrerinnen, Sozialarbeiter und Schreiberlinge, die noch nie auch nur einen Cent in der wahren Welt der Marktwirtschaft verdient haben und alle vom Staat durchgefüttert und bezahlt werden, selbstverständlich gut bezahlt, viel zu gut bezahlt werden, diese intellektuellen Besserwisser, elitären Dummschwätzer, eingebildeten Klugscheisser, dieses Akademikergesindel, das sich für besser hält, mit dem ganzen Geschwafel über Pressefreiheit, Toleranz und Menschenrechte und dergleichen, diese Feinde der rechtschaffenen kleinen Leute, der ehrlichen und anständig arbeitenden Steuerzahler, diese Nestbeschmutzer und Asylantenfreunde, Verräter unserer christlichen Werte und nationalen Traditionen, unpatriotisches Pack, Öfen sollten man wieder bauen und rein damit, das wird man doch wohl noch sagen dürfen, oder etwa nicht?, selbst das Reden wollen sie einem verbieten, mit ihrer politischen Korrektheit, ist das hier etwa kein freies Land?, doch, das ist ein freies Land, unser Land, und wir, die ehrlichen, anständigen kleinen Leute, wir wollen die Dinge beim Wort nennen, sagen dürfen, wie es ist, wozu zahlen wir denn sonst Steuern?, also alle einsperren, erschiessen, vergewaltigen, verscharren, in verschiedener Reihenfolge, Frauen und Kinder zuerst, ohne Pardon, Pardon, das wird man doch wohl noch sagen dürfen in diesem Land, in diesem schönen, schönen Land, oder wenn wir das schon nicht dürfen, dann machen wir einfach genauso weiter wie bisher, wenn schon nicht nach unserer Vorstellung, dann aber auch nicht nach eurer, nein, dann ganz sicher auch nicht nach eurer Vorstellung, also machen wir Folgendes, Hauptsache es bleibt alles genau so, wie es ist und immer war, denn so wie es jetzt ist, ist und war es schon immer wunderwunderbar und so soll es auch bleiben, es darf sich nur ja nie, nie, niemals je etwas ändern in unserem schönen schönen Land, und falls doch, dann aber auf gar keinen Fall zum Besseren.

 

Ich beende meine Lektüre der heutigen Tageszeitung, leider auch heute, ohne mich eines Besseren belehrt gelassen zu haben, obwohl ich mir wirklich Mühe gegeben habe, und komme vielmehr auch heute wieder zum Befund, dass der Sinn jeglichen menschlichen Strebens, also auch meines eigenen, gegen Null streben muss und die Menschheit unverändert davon besessen und inbrünstig damit beschäftigt ist, unaufhaltsam und endgültig zu scheitern. Es muss jedoch zu meinen Gunsten bemerkt werden, dass ich selbst trotz des Scheiterns und mit dem Scheitern durchaus zu leben versuche. Siehe mein Leben. Schliesslich hätte ich nichts anderes als das Scheitern erwarten dürfen, als ich mit dem Denken begann. Denn was ist die menschliche Existenz anderes als ein einziges gewaltiges hilfloses Irren? Was ist die menschliche Existenz – abgesehen von einigen immer wieder schmeichelnden Momenten flüchtiger Glückseligkeit oder relativer Gelassenheit, und abgesehen von einigen besonders hartnäckigen und effizienten Formen des Selbstbetrugs – anderes als ein gigantisches köderndes Kaleidoskop des vielfältigsten Versagens?

 

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