Wenn Arthur morgens zur Arbeit fährt

Teil 1

 

Sechs Uhr früh in Mitteleuropa und Arthur tritt hinaus ins morgendliche Grauen. Seine Mitmenschen sehen aus, als ob sie lange und heftig geweint hätten, die Augen matschig, verquollen und traurig. Sie entsteigen den Trauerzügen und erfüllen die graue Bahnhofshalle mit garstiger Geschäftigkeit und ansteckender Trübsal. In Wirklichkeit haben Arthurs Mitmenschen jedoch durchaus nicht geweint, sie sind bloss auf dem Weg zur Arbeit, wie jeden Morgen. Auch Arthur ist auf dem Weg zur Arbeit und auch er ist matschig und traurig und lässt sich solidarisch im müden, trüben Pendlerstrom mittreiben. Einreihen und Mitlaufen, alle Mann und Frau an Bord, der Einstieg ist in Fahrtrichtung rechts. Arthur setzt sich, so wie alle, so wie immer, so nah wie nötig und so entfernt wie möglich zu seinen geschätzten Mitreisenden, was keineswegs mit zwischenmenschlicher Antipathie zu tun hat, sondern lediglich mit kalten, emotionslosen sozialphysikalischen Mechanismen. Nachdem sich die Reisesubjekte den genannten Gesetzen entsprechend innerhalb des ihnen zugedachten Transportraums verteilt haben, beschleunigt sie das öffentliche Verkehrsmittel zeitplangemäss auf der eingespielten Route Richtung rechtschaffene Routine. So weit so gut. Doch nach wenigen Sekunden ereignisloser Fahrt ertappt Arthur seine rechte Hand dabei, wie sie sich auf die aktuelle Gratiszeitung zubewegt, die da in gefährlicher Reichweite liegt. Die Gratiszeitung lesen, brrrr! Arthur sollte es lassen, aber wie? Das Gratiszeitunglesen ist bei Arthur schon längst eine Zwangshandlung, eine veritable Sucht, und es ist zweifellos seine schwerste, schädlichste und schändlichste Sucht. Wäre die kontemplative Stille und relative Ereignislosigkeit eines frühmorgendlichen Zugabteils nicht ein wahrer Segen? Das wäre sie wohl – könnte Arthur sie bloss aushalten, was er aber weder kann noch will. Leider hält Arthur die Stille und Ereignislosigkeit im Zugabteil genauso wenig aus wie das, was er täglich in den Gratiszeitungen lesen muss. Doch muss er sich für eines der beiden Übel entscheiden. Arthur begeht daher den naheliegenden und verständlichen Fehler, die geistige Selbstverstümmelung per Gratiszeitung zu präferieren. Magen, Darm und Nervenkostüm protestieren prompt gegen die lieblose Lektüre. Dummheit, Gier und Mordlust in allen Rubriken, wie gehabt, der tägliche totalisierte Todestrieb der herrschenden Umstände, und die herrschenden Umstände machen nun mal auch vor dem Arbeitsethos der für das Arthur vorliegende Blatt verantwortlichen Journalistinnen und Redakteure nicht halt. Sie tun nun mal, was von ihnen verlangt wird, und haben sich auch bei dieser Ausgabe nichts anderes vorgenommen, als ihr Tagesgeschäft der periodistischen Psychopathie pflichtbewusst zu betreiben. So kommt es, dass der schlechtgelaunte Arthur nun ein druckfrisches Exemplar der herrschenden publizistischen Pest in seinen Händen hält. So kommt es, dass das, was der arme Arthur da lesen muss, die pure penetrante Protokollierung permanenter pekuniär-parasitärer, populistisch-paranoischer, popelig promiskuitiv-pornographischer Prozesse ist, welche in ihrem interdependenten Irrsinn bekanntlich quasi die gesamte spätkapitalistische Realität ausmachen und beherrschen, in der Arthur und seine geschätzten Mitreisenden leben. Insofern erfüllt die vorliegende Gratiszeitung ihren Informationsauftrag ja ganz konsequent und gut, befindet Arthur – und doch weiss Arthur, dass die Abbildung der ethischen Verelendung, die er sich da zu Gemüte führt, nie und nimmer die venenöse Druckfarbe wert ist, mit welcher sie gedruckt wurde. Und Arthur ist sich sicher, dass die Welt nach der Lektüre dieses perfiden Produkts – gerade durch die Lektüre dieses perfiden Produkts – grundsätzlich noch mal ein gutes Stück schlechter sein wird, als sie es ohnehin schon ist, und dass die beeindruckende Beliebtheit dieser pandemischen Papierperfidität sich doch bloss der vielfältigen Verdorbenheit seiner leidenschaftlichen Leserschaft verdankt, die mit diesem debilisierenden Druckerzeugnis ihre zuverlässige zynische Zerstreuung erhält: Arthur weiss, dass er im Grunde genommen nichts anderes als einen sehr, sehr späten, aber nur allzu, allzu überzeugenden Beweis der allgegenwärtig um sich herum greifenden geistigen Weltverödung in seinen Händen hält, welche sich als groteskes und grausiges Gemisch in einer unseligen Hochzeit paart mit einem wüst hysterischen hyperneoliberalen Zwangsoptimismus, der jeglichen noch übriggebliebenen Funken Hoffnung in die menschheitliche Triftigkeit auch nur ansatzweise kritischen Verstandes ganz gründlich, radikal und endgültig für immer und ewig auszulöschen versucht: So liest Arthur, während er zur Arbeit fährt, in seiner Gratiszeitung, dass es Essig regnet und Tennisbälle hagelt, dass die Gletscher weich werden wie ranzige Sahne und sich langsam in ein leergefischtes Giftmeer ergiessen, in welchem Fidschi und Bangladesch nächste Woche feierlich versinken werden. Arthur liest, dass den Völkern der Erde das Wasser bis zum Hals steht, dass diejenigen, die am Trockenen bleiben, der Dürre zum Opfer fallen werden, und dass der staubige Wind den atomisierten Rest in die verseuchten Lüfte tragen wird. Soweit zur provisorischen Ökobilanz. Hätten die Gratiszeitungslesenden unter diesen Gesichtspunkten eigentlich nicht allen erdenklichen Anlass, ein umfassendes Umstrukturieren der herrschenden Umstände anzustreben, um der rasanten planetaren Verwüstung entgegenzuwirken, über die sie durch die regelmässige Lektüre der Gratiszeitung ja schon längst gründlich und zur Genüge informiert sein müssten? fragt sich Arthur manchmal. Wohl schon, denkt sich Arthur, theoretisch, und konstatiert sogleich, dass aber praktisch genau das Gegenteil der Fall ist. Dass das nie zuvor dagewesene Ausmasse erreichende Versagen der Menschheit aktuell auf so etwas wie einen destruktiven Höhepunkt zurast, und dass die angestrengte Arbeit am Erreichen dieses Endsiegs mit allem erdenklichen Eifer und Engagement eigentlich fast aller Beteiligten vorangetrieben wird. Aber welches sind die Gründe dafür, dass die heute herrschenden Hochkulturen umweglos, ungebremst und sogar mit zunehmender Beschleunigung – und mit einer in diesem Zusammenhang doch ziemlich unangebrachten Entzückung infolge Geschwindigkeitsrausch – auf einen allseits deutlich sichtbaren Abgrund zurasen, während sie zudem auch noch rundum besessen sind von dem unheimlichen Willen, so viele unbeteiligte und nichteinverstandene Lebewesen wie überhaupt nur möglich ins sichere Verderben mitzureissen? Arthur möchte es gerne wissen, aber es steht nicht in der Gratiszeitung drin, nicht auf der sehr kompetenten Wirtschaftsseite, nicht im ausführlichen und sehr, sehr wichtigen Sportteil, nicht einmal in der Horoskop-Sparte, die doch eigentlich den einzigen glaubwürdigen und der Wahrheit verpflichteten Abschnitt in dem ganzen bescheuerten Blatt darstellt. Nein, es stehen keine Antworten da, und genau genommen auch gar keine Fragen, nur Wirkungen ohne Ursachen, und die Ursache hierfür liegt vermutlich darin, dass das angenehme Alltagsdenken des geneigten Publikums empfindlich getrübt werden könnte durch die rohe Reflexion über das unausweichlich Ungeheuerliche, über die Erkenntnis des grandiosen gemeinsamen Versagens, über die Tatsache, dass die menschliche Weltwirklichkeit schlichtweg zu böse ist, um wahr sein zu dürfen, über die Tatsache, dass Arthur und seine Mitreisenden heute routiniert und pflichtbewusst zur Arbeit und anschliessend in die Hölle fahren. Und doch, bedauert Arthur, ist dies die endliche Zeit, ist dies der erschütternde ethische Abort des Erdenkreises, in den er hineingeworfen wurde. Und obwohl auch Arthurs Sinne nicht mal halbwegs offen sind an diesem frühen Arbeitstag, sind sie immer noch bei Weitem zu offen für die offenliegende Qual des wunden Wissens der tödlichen Tatsachen und erstickenden Erkenntnisse der gescheiterten Geschichte der missglückenden Menschheit. Und im nur schwer zu beseitigenden Schwelen der Schmerzgedanken glimmt in Arthurs Geiste bisweilen eine einfältige, aber furchterregende Frage auf. Und die Frage lautet: Wie so leben?

Die Antwort ist vorerst egal. Jedenfalls kommt man zuverlässig dort an, wo man hin soll, alle aussteigen, Arthur und die gesamte gepflegte und gehegte Arbeitskraftarmee. Die betongraue Bahnhofshalle spuckte sie aus, die muntere und motivierte Menschenmasse, um der von ihr invadierten mitteleuropäischen Verstädterung im Morgengrauen den Charme eines aus Unachtsamkeit oder Böswilligkeit zertrampelten Ameisenhaufens zu verleihen. Dank des gezielten Einsatzes der richtigen Dosis Drängeln, Gängeln und Zwängen finden Arthur und seine Ameisenfreunde die eingespielten Wege durch ihre allesdurchdringenden Ameisentunnel und sie kommen an, verrichten ihr Tageswerk, kämpfen ihre täglichen kleinen Konkurrenzkämpfe und Kleinkriege und gemeinsam macht sie ihre Arbeit nützlich, glücklich, stark und frei.

 

 

 

 

...Arthur folgt...