Im Jahre 2184

 

Man schreibt das Jahr 2184. Man stelle sich eine Welt vor wie in Blade Runner, Mad Max, Wall-E oder ähnlich unappetitlichen Zukunftsszenarien, bloss mit dem Unterschied, dass sich die erwähnten Filmlandschaften vergleichsweise romantisch ausnehmen gegenüber unserer Lebensrealität im Jahre 2184.

 

„Taxi, halt Revier 4.2.1a“, ruft D321769x heiser und emotionslos, um das plutoniumbetriebene selbstgesteuerte Taxiwrack zu seinem Ziel zu lotsen.

 

Die Menschen im Jahre 2184 sprechen tatsächlich derart bekloppt, die menschliche Sprache ist zu diesem Zeitpunkt der zivilisatorischen Verödung auf ihre plumpste Funktionalität reduziert und zum schmucklosen blossen Informationsübertragungswerkzeug degeneriert. Es muss allerdings gleich zu Beginn festgestellt werden, dass es sich eigentlich um eine schriftstellerisch ausserordentlich undankbare Aufgabe handelt, die direkte Rede in einer in der Zukunft spielenden Kurzgeschichte wiederzugeben, denn die Sprache der Zukunft wird sich gegenüber der unseren gegenwärtigen dermassen unterscheiden, dass sie genauso unverständlich sein wird, wie die unsere für die damaligen Sprecher spätmittelhochdeutscher Dialekte. Weil die kollektive Verblödung und Verrohung ausgehend von unserer Gegenwart bis ins Jahr 2184 jegliches für uns vorstellbare Mass überschritten hat, verdient die nun als normal geltende Sprache nach den Massstäben des 21. Jahrhunderts überdies kaum noch die Bezeichnung Sprache. Übergehen wir also ganz einfach dieses kleine hypothetische linguistisch-literarische Hindernis und fokussieren wir uns darauf, wie realistisch, glaubwürdig und wahrheitsgemäss alles anderen Aspekte des hier beschriebenen Zukunftsszenarios abgebildet werden.

 

D321769x ist angekommen, wo er ankommen musste, vor den rostigen und von radioaktivem Raureif triefenden Toren eines monströsen Molochs aus brüchigem Stahlbeton und schmierigem Spiegelglas, das bedrohlich in einen grünlich-trüben, vor Smog strotzenden Gifthimmel ragt. Hier ist der Arbeitsort von D321769x untergebracht, das Amt für Umwelt, in einem dieser hundertstöckigen architektonischen Monstren, die zur Zeit ihrer Errichtung inmitten der hyperneoliberalen Spät-Ära blinder und selbstzweckmässiger Expansionswut die unumgänglich gewordenen Anforderungen verdichteten Bauens und die Unterbringung einer Tausendschaft an entmenschlichtem Büropersonal in Batteriehaltung unter ein Dach zu bringen vermochte, ohne dass jemand Gedanken darüber verschwendete, dass schon bald niemand mehr den Unterhalt solch schwindelerregend hoher und astronomisch teurer architektonischer Prachtwerke gewährleisten mochte – was sich als perfekt sinnbildlich für den gesamten blutigen Rest der spätmodernen Technologiegesellschaft herausstellen sollte.

 

„1, 2, 3, 4, achnein, 4 2, nein, 5 3, quatsch, 3 5, verdammt. Stop. Vorschlag. Eröffnen Unterlage Maschinerie selbst. Stop. Zahlenbrei Lesen doppelplus lächerlich. Stop. Ende“. Beamter D321769x arbeitet auf Hochtouren in seiner Bürobatterie, die er mit tausend weiteren Bürobeamten teilt, und die genau so sind wie er, genauso ineffizient, entfremdet und selbstzweckmässig ihr Tagespensum abarbeiten wie er, die aber eine andere Identifikationsnummer tragen als er, immerhin.

 

Wir schreiben das Jahr 2184, falls wir es noch nicht erwähnt haben sollten, George Orwell hatte sich verkalkuliert, die von ihm in allen verdammten Höllenfarben ausgemalte Zukunftsvision war im Jahre 1984 durchaus noch nicht vollständig und restlos realisiert worden. Andernfalls hätten wir Menschen der Gegenwart das damals ja schliesslich bemerkt und infolgedessen Alarm geschlagen und umgehend die Notbremse gezogen – vielleicht! Oder vielleicht war Orwell zu ungeduldig mit seinem Zahlenverdrehen und Faktenvoraussehen, jedenfalls führten die internationalen Machenschaften in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Militär – was in einem bestimmten Punkt alles dasselbe war, und dieser Punkt war leider der springende Punkt – erst, aber exakt und präzise genau zweihundert Jahre später zur vollkommenen Manifestierung des düsteren dystopischen Endzustands, den Orwell schilderte; im Wesentlichen jedenfalls, mit einigen Differenzen, die er nicht vorausgesehen hatte, der Gute. Nämlich folgende:

 

Die unter existenziellem Druck stehenden Regierungen der Welt am Ende des 21. Jahrhunderts sahen ausschliesslich zwei gangbare Möglichkeiten, um die ausser Rand und Band geratenen Menschenmassen unter Kontrolle zu bringen, nämlich die grundlegende Um- und Durchstrukturierung der Staats- und Gesellschaftsform nach a) faschistischem oder b) kommunistischem Vorbild. Unnötig zu sagen, dass in den allermeisten übriggebliebenen Ländern der Welt die faschistische Option sich durchsetzte, und zwar ganz einfach, weil sie den Menschen nicht aufgezwungen werden musste, sondern vielmehr schon seit Langem herbeigesehnt und ausdrücklich gewünscht worden war. So trafen die faschistischen Tyranneien der Zukunft keineswegs auf Widerstand, sondern auf bedingungslosen Rückhalt und breite, besinnungslose Unterstützung seitens der von ihnen unterjochten Völker. Diese Reaktion war freilich eindeutig voraussehbar und dürfte in der Gegenwart niemanden überraschen. Demgegenüber hatten sich, wie erwähnt, einige Tyrannoregierungen für den kommunistischen Glücksweg entschlossen – natürlich stalinistischer Prägung, was denn sonst, denn wenn schon, denn schon –, beispielsweise, sagen wir mal Russland und China, und diese beiden garstigen Grossmächte werfen nun im Jahr 2184 einen gewaltigen blutroten Schatten über die flächendeckend faschistisch gewordene Westwelt. Dass sie in der Zwischenzeit ganz Afrika und Asien für einen Appel und ein Ei aufgekauft und anschliessend feierlich geplündert hatten, sei hier auch noch kurz erwähnt.

 

Selbstverständlich führen die glorreichen Grossmächte im Jahr 2184 grössenwahnsinnig sinnlose Kriege gegeneinander, was das Zeug hält was soll man denn sonst tun, wenn es einem schlecht geht?

 

Dadurch wiederum ist Gott sei Dank nicht alles schlecht im Jahr 2184: Die Militär- und Kriegswaffenindustrie floriert wie nie zuvor, die Überbevölkerung hat sich rascher und effizienter dezimiert, als jede komplizierte Intervention à la Geburtenkontrolle, Empfängnisverhütung, Aufklärung etc. es jemals hätte erreichen können. Ausserdem können immerhin die Superreichen und Megamächtigen dieser schönen neuen Welt – was in dieser schönen neuen Welt zufälliger- und überraschenderweise ungefähr dieselben Menschen sind – es sich gut gehen lassen, indem sie sich täglich den Wanst vollschlagen mit teurer synthetischer Wurst und aus seltenen Mineralölen gewonnenen Süssspeisen. Die Tatsache, dass zumindest besagte Leute es sich sehr gut gehen lassen können, geniesst grosse Akzeptanz innerhalb der hungernden, darbenden, ausgehöhlten Massen, denn wenn es den Superreichen und Megamächtigen gut gehe, so glaubt man im Jahr 2184, profitieren auch alle anderen irgendwie davon. Man hat leider nur noch nicht genau begriffen, wann, wo, wieso und inwiefern.

 

Wir befinden uns übrigens inmitten des infarktgeschädigten Herzens der Vereinigten Staaten von Europa – einst ein löbliches militärisch-ökonomisches Prestigeprojekt unter dem Schutzschirm der damaligen britischen und französischen Atombomben, dessen Schutz sich jedoch als fragwürdig und fragil herausstellte –, das mittlerweile nur noch einen geopolitischen schlechten Witz darstellt. Die meisten Kontinente sind im Jahre 2184 zu grossen Teilen unbewohnbar; wenn es in der Zukunft innerhalb des Gebietes des ehemaligen Europa noch lebenstaugliche Bedingungen für Menschen gibt, so liegt dies einzig daran, dass man in der Gegenwart eine heuchlerische Harmonie inmitten der ringsum wütenden Katastrophe aufrechtzuerhalten sich bemühte, indem man möglichst viele Zivilisationsprobleme auslagerte und verdrängte: den Nuklearmist nach Nigeria verschiffen, die ganzen Plastikmüllberge nach Ostasien versetzen, und wenn sich irgendetwas wirklich unter gar keinen Umständen legal entsorgen liess, wurde es halt mithilfe internationaler Mafia-Netzwerke – die sich im historischen Rückblick als die bei weitem zuverlässigsten, pünktlichsten und tüchtigsten Institutionen innerhalb des Systems herausstellten – direkt im Meer versenkt. Die dreckigsten Industrien hatte man ja schon bald sehr gründlich aus dem Territorium der Vereinigten Staaten von Europa verbannt, nachdem man endlich den letzten Klumpen Braunkohle exhumiert und eingeäschert hatte. All die stinkenden und todbringenden Fabrikmoloche, die die giftigen und verseuchten Alltagswaren für die gigantischen Zentren der weltweiten Konsumtyrannei herstellten, lagen bald nur noch im damaligen China, Indien, Afrika und Lateinamerika. Das mag teilweise erklären, wieso diese Weltregionen im Jahr 2184 zu weiten Teilen nur noch für Kakerlaken und multiresistente Keime bewohnbar sind.

 

Und genau diese Zukunft, die wir jetzt gerade beschreiben, wurde der Menschheit der Gegenwart damals mit erschreckendem Erfolg schmackhaft gemacht. Natürlich hatte man manche Aspekte, insbesondere die peinlichen, streckenweise ausgelassen, verschwiegen, beschönigt oder einfach schlichtweg vergessen. Aber im grossen Ganzen preiste man den Völkern schon sehr lange klar und deutlich die todsicher kommende kollektive Katastrophe im Namen des Wachstums, im Namen des Fortschritts, im Namen Gottes, im Namen der Sicherheit, im Namen des Kampfes gegen was auch immer an und rechtfertigte und gutheisste die endlosen materiellen und personellen Opfer für Sachzwänge und Realpolitik, für Wirtschaftsstandorte und Vernunft, für Arbeitsplätze und Realismus, für das Volk, den Volkswillen und die kommenden Generationen, für den freien Markt, für das unumstössliche Prinzip von Angebot und Nachfrage, für den Schutz der Bevölkerung und das Beste für Alle sowie für das unaufhaltsame Voranschreiten der Weltgeschichte, die aber zugunsten von nichts anderem als der Vermehrung der Dummheit und Stumpfheit der Massen und der Begünstigung der Gier und Verkommenheit ihrer Tyrannen voranschritt.

 

Die Welt im Jahre 2184 ist somit ein fröhlicher Ort, säuberlich aufgeteilt und gründlich ausgeraubt durch eine paar tolle, hippe Megagigakonzerne, Militäruniversalgrossmächte, private Dynastiekapitalmultis sowie diverse wohlorganisierte transkontinentale Schwarzmarktkartelle. Um den Rest zankten sich gelegentlich noch irgendwelche Ayatollahs, Mullahs und Schariascheiche, die vorausschauend genug waren, mit ihren Petrodollartrilliarden den gesamten Industrie- und Forschungszweig der erneuerbaren Energien aufzukaufen und anschliessend mit Sang und Klang im Roten Meer zu versenken, nachdem man den wirklich allerallerallerletzten Tropfen Öl aus dem Leib der Mutter Erde gepresst und verbrannt hatte und man sich zu fragen begann, wie man denn nun weiterfahren solle. Sonnenenergie wäre indessen ohnehin keine Lösung gewesen, da im Jahre 2184 auch die Sonne keine Lust mehr zum Scheinen hat – soll heissen, dass die wenigen schwächlichen, blassen Lichtschimmer, denen es gelingt, die schmutzig-braune Pestatmosphäre der strahlenden Zukunft zu durchdringen, die ausgetrockneten Trümmerlandschaften unserer von widerlichen Winden umheulte und in nitrogenöse Nebelschwanden eingehüllte Erdoberfläche nicht mehr zu erreichen vermögen.

 

Unnötig zu sagen, dass diese Zukunftsperspektive den allermeisten Menschen der Gegenwart zu gefallen schien. Sie gaben zumindest ihre Ja-Stimmen, jedenfalls dort, wo sie noch danach gefragt wurden, um die ansatzweise letzten Schimmer pseudodemokratischen Scheins zu wahren, später brauchte man nur noch Likes zu geben, was irgendwie gemütlicher war und attraktiver erschien, um die eigene selbstverständliche Zustimmung zu irgendeiner Form des bereits vorab ausgehandelten todsicheren allgemeinen Verderbens zu bekunden. Die kommenden Generationen durften dann die Früchte unserer politischen Widerstandskraft, Wohlbesonnenheit und Zivilcourage ernten. Zum Erstaunen Vieler gefiel es jedoch rundum niemandem, was wir den kommenden Generationen zurückliessen, ausser natürlich eben der auserwählten Gruppe der Machthaber und Mächtigen, die jedoch jederzeit über genügend Mittel verfügten und verfügen, um sich von ebendieser Schreckensrealität freizukaufen, die sie Tag für Tag kreierten und kreieren, indem sie die Lebenswelt entschieden und in jeder Hinsicht verschlechterten und vernichteten und weiterhin verschlechtern und vernichten. So leisten sich die Mächtigen und Privilegierten im Jahre 2184 beispielsweise unverschmutzte Luft, unverseuchtes Wasser, ungetrübten Genuss von Tageslicht oder regelmässige Ausflüge zu den angesagtesten Wellness-Spas auf den luxuriösen Marskolonien. Sie stellen Kunststoffblumen zur Schau in ihren topkomfortablen, vollklimatisierten und hochsicheren Wohntempelfestungen und fressen echtes Kunstgemüse und ordentlich Kunstfleisch aus den privat-staatlichen Laborfleischfabriken und Biosyntheseplantagen.

 

Man mag sich nun fragen, wieso die Superreichen und Megamächtigen auch in der Zukunft durchwegs als egoistische, niederträchtige und bösartige Lebewesen dargestellt werden. Es mag darin liegen, dass seelisch gebildete und geistig verfeinerte Humanisten und Altruisten es in der Regel vorziehen, gute Bücher zu lesen oder Kurzgeschichten zu schreiben oder ähnlichen Quatsch, Tiere zu füttern oder hungernde Menschen zu retten zu versuchen, statt sich den entmenschlichenden, hinterhältigen, rücksichtslosen, gewalttätigen, widerwärtigen und intriganten Karriereweg entlang der Machtstrukturen hinauf zu den wenigen brutal umkämpften halbgottmässig-überunmenschlichen Führungspositionen zu ebnen aber wir sehen ja nun endlich, im glorreichen Jahre 2184, was diese rigorose Rollenaufteilung letztlich zur Folge hatte, Tiere gibt es keine mehr, ausser diejenigen, die keiner mag, nämlich eklige und widerliche Giftviecher, die nicht totzukriegen sind, und die dem Menschen nichts anderes bringen als Schrecknis und Schaden, und hungernde Menschen gibt es auch fast keine mehr, ein Riesenerfolg, jedenfalls absolut numerisch betrachtet, und diejenigen, die in der Welt der Zukunft noch hungern müssen, die sterben recht schnell, und es ist ihnen eigentlich ehrlich gesagt auch ganz recht so im Jahr 2184. Was ein weiterer Beweis dafür ist, wie siegreich und fruchtbar die Rufe nach einer Reduktion der sogenannten angeblichen vermeintlichen Überbevölkerung am Anfang des 21. Jahrhunderts war (eine Fehleinschätzung, wie sich nachträglich herausstellen sollte; es gab geschichtswissenschaftlich betrachtet nicht zu viele Menschen nur zu viele schlechte Menschen). Die letztlich erfolgte Umsetzung der Rufe nach der allseits geforderten Reduktion der Weltbevölkerung machte dann aber auch niemanden glücklich, nicht einmal diejenigen, die am lautesten danach gerufen hatten, weil letzten Endes nun mal niemand derjenige sein wollte, auf den die Weltbevölkerung verzichten musste.

 

„Doppelplus Ende.“