Optimismus für die Endzeit

C.S.Rodriguez C.S. Rodriguez Optimismus für die Endzeit neue Literatur Satire die ultimative systemrelevante Kulturkritik

Die Entstehung unserer Kultur und Gesellschaft

 

Am Anfang von Allem stand die Möglichkeit vielfältigsten Versagens. Diese Möglichkeit liess sich die richtungslose Rotte unserer Vorfahren nicht entgehen. Darum wurden sie zu dem, was sie wurden: Verschwendete, Verlorene, Verdammte, Vergeudete, Verbrauchte, Verbrannte. Vergebliche Liebesmüh des Schicksals, Kanonenfutter der Hinfälligkeit. Sie wurden Militärdiktatoren, Fernsehredaktoren oder Bankdirektoren, wurden Rohstoffmagnate oder handelten mit Finanzderivaten. Sie wurden alles Menschen- und Unmenschenmögliche und noch viel mehr, und sie trieben ihre hemmungslosen Werdungsversuche mit optimistischer Konsequenz voran, versessen, das Versagen immer und schlimmer und ewig zu vervielfältigen und zu vermehren. Und im Zuge ihrer hemmungslosen Vervielfältigungsbestrebungen schämten sie sich nicht, zu behaupten, die Kinder seien die Hoffnung. Doch die Kinder waren keineswegs die Hoffnung. Sie waren vielmehr das willkommene Fressen für das hungrige Ungeheuer der Unterhaltungsindustrie!

 

So beginnt die glorreiche Geschichte der menschlichen Zivilisation. An ihrem voraussichtlich demnächst eintretenden Ende werden noch einige Kernkraftwerkruinen, durchgerostete Nuklear-U-Boote und die Mondlandschaften der Uranerzabbaugebiete übrig geblieben sein, Letztere etwa so gross wie die Schweiz, jedoch nicht so gepflegt und nicht so sauber. Doch anhand welcher Kriterien wagen wir es, die zivilisatorische Erfolgsgeschichte in den radioaktiven Schmutz zu ziehen? Ein mögliches Kriterium wäre, zu betrachten, auf welche Art und Weise die heutigen Hochkulturen sich ihre irdische Wohnung eingerichtet haben. Die Rede ist vom guten, alten Rohstofflieferanten Erde. Dumm gelaufen, müsste dabei im vorläufigen Abschlussbericht zum Projekt Mensch und Umwelt vermerkt werden: Es regnet Essig und hagelt Tennisbälle; die Gletscher werden weich wie ranzige Sahne und ergiessen sich langsam in ein leergefischtes Giftmeer, in welchem Tuvalu und Bangladesch demnächst feierlich versinken. Das Wasser steht der Menschheit bis zum Hals. Wer im Trockenen bleibt, wird der Dürre zum Opfer fallen. Den atomisierten Rest wird der Wind in die verpesteten Lüfte tragen. Soweit die provisorische Ökobilanz.

 

Nüchtern betrachtet könnte man vielleicht meinen, dass die Menschheit angesichts dieser unheilvollen Szenarien ausreichend Anlass und ausgiebig Motivation dafür hätte, ein umfassendes Umstrukturieren der herrschenden Umstände in Erwägung zu ziehen, aus welchen diese planetaren Disharmonien hervorgegangen sind. Dass dem jedoch nicht so ist, dürfte heutzutage kein Geheimnis mehr sein. Es stellt sich also die Frage: wieso nicht. Ein möglicher Grund dafür, wieso die Hochkulturen der Gegenwart ungebremst, umweglos und sogar mit zunehmender Beschleunigung auf ihren sicheren Untergang zusteuern und es bei dieser Gelegenheit ausserdem aussergewöhnlich ambitiös anstreben, so viele unbeteiligte menschliche und nichtmenschliche Wesen wie überhaupt nur möglich mit ins Verderben zu reissen, könnte beispielsweise darin liegen, dass wir weder Zeit noch Lust noch die Fähigkeit dazu haben, über hochkomplexe globale Probleme zu sinnieren, deren Lösung von Tag zu Tag unmöglicher erscheint. Gedanken dieser Art sind nun mal auch nicht besonders erbaulich. Die rohe Reflexion am Rande des Abgrunds kann das unschuldige Alltagsdenken empfindlich trüben. Was aber nicht heissen soll, dass die heutigen Hochkulturen ihre glänzenden Augen vor dem leuchtenden Feuerwerk ihres grandiosen Versagens verschlössen. Durchaus nicht! Vielmehr ist in der höchst besorgten, zutiefst betroffenen Spass- und Leistungsgesellschaft, in welcher wir leben, und zu deren eifrig grinsenden Teilnahme everybody eingeladen ist, das Thematisieren der planetaren Missstände selbst längst auch zu einem Teil des entertainment und des marketing geworden. Wenn die Katastrophe schon nicht aufgehalten werden will, so soll sie sich doch zumindest nochmal gehörig auszahlen! Und damit ist die Welt auf eine bestimmte Art und Weise auch wieder alright.

 

C.S.Rodriguez Christian Schmid Rodriguez Optimismus für die Endzeit neue Literatur Satire die ultimative systemrelevante Kulturkritik Chris S. Rodriguez

Im weissen Westen

 

Ja, wir im weissen Westen wissen Bescheid über Wohlstand, Wachstum und wirksame Vergnügung. Was soll daran so verwerflich sein? Können und dürfen wir uns etwa nicht mehr rein und unbefleckt wähnen? Wenn wir mit gesättigtem Blick aus der strahlenden Sauberkeit und der blitzblanken Beschaulichkeit heraus auf die Schlammschlacht der Verelendeten hinabblicken? Wenn wir mit Wohlwollen feststellen, wie freundlich die herrschenden Umstände uns trotz allem immer noch gesinnt sind? Ja, der weisse Westen ist froh drum, gut weg gekommen zu sein inmitten der zwar schrecklichen, aber vor allem schrecklich schicksalshaften globalen Ungerechtigkeit. Und er pflegt den grundgütigen Gleichmut des gebildeten, christlichen Zivilisationsmenschen. Und er freut sich über den Fortschritt gegenüber vergangenen Zeiten: Dass wir uns heute gar nicht mehr die Mühe machen müssen, eigenhändig Untermenschen zu massakrieren, um unsere hartnäckige und heillose Asozialität auszuleben, die unser kulturelles Selbstverständnis immer schon ausmachte. Heute genügt es, einfach nur dreissig Sekunden lang zu sein, was wir sind: Erste Welt mit gutem Gewissen. So leicht ist das. Unsere Marktgesetze erledigen den Rest, und sie erledigen ihn effizient. Das ist die neoliberale Leichtigkeit des Seins.

 

Soweit zur Glücksökonomie der herrschenden Umstände, zugegebenermassen etwas verdichtet. Die hier angedeuteten Unterstellungen, Anschuldigungen und Anklagen sind in Wirklichkeit natürlich teuflisch komplex und unendlich verstrickt. Darum wäre es beispielsweise unverzeihlich, zu behaupten: Die Erste Welt zelebriert den Überfluss bis zum Erbrechen, nicht nur während anderswo Unterdrückung, Krieg und Elend herrschen, sondern gerade dadurch, dass anderswo Unterdrückung, Krieg und Elend herrschen. Nein, nein. Wenn auch jedes einzelne auffindbare Indiz unumstösslich dafür spricht, dass an dieser Behauptung leider alles zutrifft, sollten wir uns doch aufs Dringlichste von solch leichtfertigen und undiplomatischen Aussagen distanzieren! Zu spassfeindlich für das kollektive Wohlbefinden, zu unappetitlich für das delikate Konsumentengemüt, zu gross für die realpolitische Tagesordnung. Zu hässlich, um wahr zu sein.

 

Obwohl man teilweise das Personal ausgetauscht hat, welches das wahre Gesicht unserer Kultur unter der Phrase Jedem das Seine zusammengefasst hatte, war die faschistisch-rassistische Massenpsychose damit keineswegs geheilt. Vielmehr hat der Konformismus der herrschenden Umstände allen faschistischen, rassistischen, massenpsychotischen Schlamm, der das Abendland nahezu flächendeckend überschwemmt hatte, aufgesogen wie ein durstiger Schwamm. Dieser Konformismus ist heute zur Grundveranlagung unserer Gesellschaften, gleichsam zu unserer Natur geworden. Man lebt diese Natur rechtschaffen, wohlgeordnet, freundlich und gut.

 

C.S.Rodriguez Chris S. Rodriguez Optimismus für die Endzeit DeleuzianDreams neue Literatur Satire die ultimative systemrelevante Kulturkritik Deleuzian Dreams Christian Schmid Rodriguez

 

Geographie der Grausamkeit

 

Was sich nach Hitler, Stalin, Franco und Mussolini verändert hat, ist primär die Geographie der Grausamkeit: die rohe Brutalität, das nackte Grauen, wurden aus Europa ausgelagert. Im Managementjargon nennt sich das outsourcing. Ausserdem gab es Anpassungen in der public appearance. Braune Uniformen wichen teuren Geschäftsanzügen. Ebenso in der corporate responsibility. Konzentrationslager wichen Grossschlachthöfen. Die Rüstungsstätten hat man mit frischer Farbe übertüncht, manchmal. Die Schwerindustrie konnte man gleich so übernehmen, wie sie war, sehr praktisch. Aus Panzern wurden Personenkraftwagen, aus Kampfbombern Verkehrsflugzeuge, denn plötzlich gab es süsses und günstiges Benzin fürs Volk und Billigflüge für Alle. Auf irgendeine unheimliche Weise hat man die Lust an Weltkrieg und Rüstungswettkampf nie verloren, aber man hat gemerkt, dass es zu viel Aufsehen erregt, ständig mit Bomben und Raketen um sich herumzuwerfen. Also kopulierte die Aggression fortan mit der Maschinerie der megalomanen Massenproduktion, dem Raubdiebstahl von Rohstoffen, der serienmörderischen Ausbeutung der Arbeitskraftarmee. Sicherlich eine attraktivere Variante: Wozu sollten westliche Wohlfahrtsstaaten ihr zivilisiertes, christliches image aufs Spiel setzen, wenn stattdessen werturteilfreier und emotionsloser Handel mit Tyrannenstaaten und Verbrecherregimes betrieben werden konnte? Unsere business relationships zur transnationalen Todesmaschinerie bedurften der sorgfältigen Pflege. Sozialromantik fütterte keine Menschen. Günstige Produktionsverhältnisse schon. Klar umrissene und halbwegs verschleierte Interessen zählten, der Rest sollte uns nicht sorgen. Was wirklich aus Europa hervorgegangen ist nach der vordergründigen und halbherzigen Verabschiedung des Dritten Reiches: Neue Sauberkeit und Hygiene. Reinere Reinheit. Reichere Reiche. Mehr Werte. Auf weniger Papier.

 

Trotzdem schämt der Stumpfsinn sich nicht, zu behaupten, unsere heutige Welt sei eine zivilisierte obwohl im Abendland der Gegenwart nichts anderes mehr herrscht als die klägliche Kultur der Kreditanstalten, Konsumtempel und Kasinos.

 

Dass nach 1945 angeblich Wunder geschehen sein sollen, wurde offenbar vor allem mittels schwarzer Magie und reichlich Schadenzauber bewerkstelligt. Die kollektive Bildung eines kritischeren politischen Bewusstseins wäre für die Welt insgesamt günstiger zu haben gewesen, erschien den Teufeln und Hexenmeistern aber offensichtlich nicht als wünschenswert. Lieber förderte man das gesamtgesellschaftliche Abtauchen in einen Schleim pseudodemokratischer Selbstprostitution, in welchem die vorbildliche Konservierung des gekauften Konsenses unterschiedslos zum Wohlfühlen erpresst. So kommt es, dass man sich heute bisweilen fragt, ob die vorangegangenen Generationen es den folgenden Generationen nicht freundlicherweise hätten ersparen wollen, in einer Welt aufzuwachsen, die von machtbesessenen, marktfundamentalistischen Massenmördern regiert wird. Die Antwort lautet: leider nein. Historische Bewusstseinsbildung ist nun mal keine Angelegenheit, die sich von selbst erledigt. Leider auch nicht unter den sogenannt mündigen, vermeintlich erwachsenen, angeblich vernunftbegabten und zurechnungsfähigen Bürgerinnen und Bürgern einer pseudoliberalen Gesellschaft – obwohl wir jederzeit dazu angehalten sind, dies zu glauben.

 

Das Ausbleiben solcher Ambitionen in der sogenannten freien Welt ist indessen leider nur allzu nachvollziehbar. Die Maschinerie der Freiheit ist ja daran interessiert, dass wir jeden Tag unsere psychophysische und intellektuelle Energie in irgendeinem postmodernen Arbeitslager zurücklassen: Zumindest diese Energie richtet sich nicht mehr gegen die Maschinerie. Umgekehrt besteht das massentaugliche Mehrheitsbedürfnis der freien Welt denn auch nicht in kritischer historischer Bewusstseinsbildung. Denn was will man denn damit anfangen, das zahlt sich ja nicht aus, ausserdem muss man nach vorne schauen. Was man genau genommen auch nie tut, aber was solls. Das massentaugliche Mehrheitsbedürfnis jedenfalls besteht grundsätzlich im Schaffen und Sichern von Arbeitsplätzen irgendeiner Art, koste es was es wolle, zur ständigen Gewährleistung reibungsloser Produktion und nie enden wollender Konsumption und zur Aufrechterhaltung der Hoffnung, dass uns das zumindest so frei machen wird, wie es uns schon früher versprochen wurde.

 

Soviel zur neueren europäischen Geschichte: Auf das Elend, die Gewalt, den Rassismus, den Staatsterror, die Menschenvernichtung und die Kriegstreiberei der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgten das allseitige und stillschweigende Vergessen, Verdrängen und Vergnügen vor dem vorzüglich verstellten Hintergrund einer sogar noch potenzierten globalen Errichtung und Reproduktion von Elend, Gewalt, Rassismus, Staatsterror, Menschenvernichtung und Kriegstreiberei im 21. Jahrhundert.

 

Und das nennt sich nun Fortschritt: Während der weisse Westen sich seine anscheinend wohlverdiente Fettleibigkeit und Aufgeblähtheit angeeignet hat, weil die Trümmer der Humanität ein guter Mist für die wachsen wollende Wirtschaft waren, wurden einfach anderswo mörderische und elende Zustände geschaffen, welche in ihrem bisherigen Ausmass tatsächlich die Gesamtheit allen europäischen Leids zu einer läppischen Lappalie zu degradieren drohen. Europa hatte jede Menge Zeit, Lehren zu ziehen aus einer unverzeihlichen Vergangenheit überbordenden Leids. Wie kann es also sein – brisante Quizfrage –, dass die aus dem europäischen Leid hervorgegangenen europäischen Gesellschaften die heute herrschenden Umstände nicht nur akzeptieren und dulden, sondern tatsächlich vorantreiben und fördern, ja, sogar vehement fordern, und diese Umstände nicht nur jederzeit erwarten und sogar explizit wünschen, sondern falls ihre Wünsche nicht ausreichend Gehör finden – diese Umstände ganz einfach auf eigene Faust erzwingen?

 

Richtig: Es dient uns!

 

Mittlerweile gibt es keine Möglichkeit mehr, unsere kadaveröse Kultur so zu präparieren, dass sie nicht Übelkeit erregte. Deswegen wird gerade der europäische Mensch sich zunehmend krank fühlen in der Körperhülle dieses inkontinenten Kontinents, selbst, wenn er das blödsinnige Glück oder die glückliche Blödsinnigkeit hat, nichts vom sinnlosen und seinetwegen sich vollziehenden Sterben mitbekommen zu müssen. Der europäische Mensch wird deswegen nicht weniger Appetit haben; ganz im Gegenteil. Er wird bis zum Ende der Weltgeschichte immer stärker das Bedürfnis haben, masslos das Material der Massenproduktion in sich hineinzustopfen, in dem Masse wie die Metastasen der totgeschwiegenen Verantwortung und geleugneten Schuld am verdrängten Verbrechen sein Inneres zersetzen und zerstören. Heute geniessen wir erst den vielversprechenden Vorgeschmack davon: Die Geschmacklosigkeit einer selbstvergessenen, selbstverfressenen Existenz; eine monströse Mischung aus Ess- und Brechsucht, Todesangst und Posttraumatischer Belastungsstörung.

 

C.S.Rodriguez Chris S. Rodriguez Optimismus für die Endzeit neue Literatur neue Satire postmoderne Satire die ultimative systemrelevante Kulturkritik Christian Schmid Rodriguez

Das Elend der Ersten Welt

 

Willkommen im Elend der Ersten Welt, im schönen Schlamassel pathologischer Privilegiertheit. Beschreiten wir weiter den eingeschlagenen Weg, um unterzugehen.

 

Schauen wir gründlich unter die Oberfläche, um auf Grund zu laufen. Tauchen wir tief, tief hinab, in eine Tiefsee des Verzweifelns, in den Druck und die Schwärze der deprimierenden Niederungen der hochgiftigen Hoheitsgewässer der hoffnungslosen Höllenherrschaft. Die Haifische haben jetzt noch mehr Zähne, die Dämme brechen überall: Mitteleuropa... Treten wir ein, in eine Welt ohne Zukunft, voller Leben ohne Sinn.

 

Was das menschliche Leben innerhalb des Segens der herrschenden Umstände determiniert, ist der Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Die Nachfrage wurzelt in den primitiven Präferenzen des viehischen Volkes. Die Befriedigung ihrer blödsinnigen Bedürfnisse zu begünstigen, ist die Aufgabe perverser Politiker und gieriger Geschäftsleute. Liberale Optimisten sind überzeugt von dieser Konstellation, in welcher ein scheinbar freies, angebliches Individuum scheinbar die beste Wahl trifft aus einer Vielzahl vorgeblich gesund gegeneinander konkurrierender, vermeintlicher Optionen. Es ist ihr Recht, das zu glauben, wenn auch nicht gerade ihr gutes. Der ehrlichere Betrachtende fragt sich dennoch, wieso die sogenannten freien Gesellschaften – zu denen sich bekanntlich die mitteleuropäische zählt –, bei aller vermeintlichen Freiheit, das Beste zu wählen, nun ausgerechnet den kollektiven Weg zivilisatorischer Zerfleischung und planetarer Putrefaktion beschreiten.

 

Das menschliche Leben im Segen der herrschenden Umstände gefällt sich gar in der royalen Position des sorglosen Konsumierens. Es gilt, diese Position noch bis zum kollektiven Erbrechen auszukosten. Also wird bis auf weiteres ausgekostet; das ist unser Sinn. Der konsumistische Segen – während der wunderlichen Jahre des Wirtschaftswunders wundersamer Weise vom Himmel gefallen –, hat sich längst verselbstständigt und verselbstverständlicht. Weit über die Abdeckung materieller Grundbedürfnisse hinausgehend, ist das ziellose Anschaffen und Ansammeln immer neuer und verlockenderer Konsumgüter ganz gründlich zum Selbstzweck verkommen. Die inhaltslose Dynamik innerhalb dieses Prozesses wird von einer wirkungsmächtigen Selbstlüge angetrieben:

 

Das Konsumieren soll den Sinn kompensieren, der aus dem durchwegs sinnentleerten Leben des ausgehöhlten Massenmenschen der kapitalistischen Spätmoderne gänzlich getilgt wurde. Physikalisch gesprochen: Die hohle Masse versucht durch Absorption, ihr inneres Vakuum zu überwinden.

 

Sinn kann man zwar nicht kaufen, doch zumindest kann die Üppigkeit unserer Konsumwelt der libidinösen Lebendigkeit ganz förderlich sein. Keine Widerrede gegen das enthemmte Einverleiben. Nieder mit den lästerlichen Lustfeinden, die das Schlaraffenland pechschwarz ausmalen wollen. Zweifellos: Sofern das philosophische Kriterium im quantitativen Potential an Genussmöglichkeiten besteht, setzt sich die Erste Welt tatsächlich als die beste aller möglichen durch. Und ist denn ihre Bevölkerung wirklich bloss eine rücksichtslose Rotte von Aasfressern und Egotisten? Wünschen wir uns etwa nicht im Tiefsten unserer kleinen Primatenherzen, dass auch die unterentwickelten Volkswirtschaften es eines Tages schafften, auf einen grünen Zweig des kapitalistischen Baums des Lebens zu kommen? Dass diese spielverderberischen, schreienden Klüfte zwischen Arm und Reich, Nord und Süd, dem Westen und dem Resten, sich in einem grossartigen, globalen Grinsen, im gelungenen, gemeinsamen Genuss auflösten?

 

Ja, viele von uns wünschen sich tatsächlich solchen sentimentalen Stumpfsinn! Man ist gut und hofft auf das Gute! Nur leider wird man einfach den verdammten Verdacht nicht los, dass die so durchaus gutmütig das Gute wünschende Wohlstandsgesellschaft nicht nur mit aller Güte, sondern auch mit aller Zeit der Welt rechnet –. So ungefähr mindestens hundert Jahre braucht das Gute sicherlich.

 

Und sie haben Recht, so zu rechnen, denn tatsächlich ist es ja die das Gute wünschende Erste Welt, welche die zynische Zeitbombe für die verbleibende Weltenzeit gestellt hat – und dann sogleich wieder zum Vergessen übergegangen ist. Und in ihrer phantastischen Vergessenheit lässt sie sich Zeit, ihr Gutes mit der Zeit abzustimmen. Aber sie nimmt die Zwischenzeit etwas zu gelassen in Kauf. Der Selbstzweck heiligt nach wie vor die Mittel. Neoliberale Nebenwirkungen liegen in der Natur der sich irgendeines Tages selbst stabilisierenden Sache. Es macht uns nichts aus, abzuwarten. Wer zuerst klaut, verdaut zuerst. Das grosse Gefährt der Industrienationen hat sich einen perfekten Parkplatz in der fatalistischen Kosmologie des Kapitalismus gesichert. Lassen wir die marginalen Milliarden auf der Strecke im Glauben, dass auch sie eines Tages bei uns ankommen könnten! Ankommen in dieser grossen und weiten, unbekannten und offenen Zukunft, in welcher sie sich proaktiv und initiativ in die gottgegebene Ordnung globaler Ökonomie eingelebt haben werden. So wie die fleissigen Gläubigen und Gläubiger der Überflussgesellschaften das auch getan haben. Den verdammten Vorwurf, dass diese Zeit nicht kommen wird, können wir immer noch mit gleichmütigem Achselzucken und sattem Wanst zur Unkenntnis nehmen. Währenddessen lautet die offizielle Proklamation, jeder Mensch sei gleich. Aber an die ethische Verkommenheit und multiple Heuchelmoral der Endzeit haben wir uns ja gewöhnt. Sie hat eine glorreiche Vorgeschichte und langanhaltende Wirkungsmacht.

 

C.S.Rodriguez Chris S. Rodriguez Optimismus für die Endzeit neue Literatur Satire die ultimative systemrelevante Kulturkritik Christian Schmid Rodriguez

Selbstbewusst auf der guten Seite

 

Sprechen wir nun über das Selbstbewusstsein der mitteleuropäischen Gesellschaften. Illustrieren wir die unerhörte Überlegenheit unserer Existenz. Selbstbewusst sind wir, wenn es um die Vorzüge unserer Kultur und Gesellschaft geht. Mit Vorzügen meinen wir in erster Linie die Möglichkeit, uns künstliche Träume und Überschäume finanzieren zu können, oder zumindest deren potentiellen Finanzierung nacheifern zu dürfen. Selbstbewusst sind wir, wenn von unserer rigiden Rechtschaffenheit und ausserordentlichen Arbeitsmoral die Rede ist. Selbstbewusst sind wir bezüglich des eigenen Fleisses, der eigenen Tugenden und der eigenen Arbeit, mit der wir zu Wohlstand und Reichtum im eigenen Land beitragen oder beigetragen haben. Wir verdanken diesen Reichtum uns selbst. Daher ist es unser Reichtum.

 

Das Selbstbewusstsein, den materiellen Segen der herrschenden Umstände mitzuverantworten, liefert uns die psychologisch beruhigende und völlig selbstzweckmässige Annahme, wir wären in der hyperflexiblen und absolut unverbindlichen Welt des Postfordismus als teilnehmende Gesellschaftsatome erwünscht oder gar unentbehrlich. Eine irrwitzig illusionäre Form arbeitsethischer Identität, die – kleine Spielverderberei - jedoch noch auf dem Selbstverständnis der gemeinschaftlicheren, überblickbareren und einfacheren Lebenswelt des vor-vorletzten Jahrhunderts basiert. Unserem individuellen Selbstwert zuliebe haben wir diese Illusion in die spätmoderne Leistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts tradiert, um weiterhin glauben zu können, dass wir dank unserer vehement willfährigen Leistungsbereitschaft gewiss auf der Seite der Aufrichtigen stehen. Und wenn wir diese Gewissheit haben, wissen wir eigentlich schon genug, denn Wissen hat heute der Selbstzufriedenheit zu dienen – andernfalls wird es nutzlos und falsch sein!

 

Falsch ist daher die Sorge darüber, was ausserhalb unserer populistisch-patriotisch aufrecht geschrienen Grenzen geschieht, wo ebenfalls Arbeit betrieben wird. Falsch die Aufrichtigkeit, unsere verhängnisvollen Verwicklungen in die weitgehenden Wechselwirkungen im Weltwahnsinn einzugestehen. Hauptsache, man kann sich auf der Seite der Guten wähnen, denn dadurch gewinnt man an emotionaler Stärke: Das geographisch abgekoppelte Massenelend tangiert uns vielleicht noch, aber betrifft uns nicht. Schuld ist für Schwache, und unsere Unschuld ist phantastisch!

 

Das Selbstbewusstsein, auf der guten Seite zu stehen, äussert sich beispielsweise dahingehend, dass die bedrohlichen Kräfte des globalen Arbeitsmarktes – sofern es überhaupt welche gibt – nicht von uns, den redlichen Übermenschbewohnern der Überflussgesellschaften ausgehen, sondern von aussen kommen – aus der milliardenfach miserablen Menschenmasse der unterentwickelten Unwelt, die in unsere weissgewaschenen Wohlfahrtsstaaten diffundieren will, um von unserem Wohlstand zu naschen. Nichts ängstigt uns mehr als das. Haben wir doch die materielle Verlustangst zur kollektiven Lebenseinstellung erhoben. In Europa, dieser fetten Made, hat sich nämlich seit 1945 nur eine Wandlung vollzogen: Vom vor Hunger blinden Kriegsversehrten zum fresssüchtigen Stumpfsinnigen. Womit der Wandlungsprozess auch schon abgeschlossen wäre.

 

Nun, da in der nördlichen Hemisphäre langsam die unliebsame Erkenntnis wächst, dass die Bälle nicht ewig so weiterrollen können, wie sie bisher rollten, wird der Angstreflex des Herdenviehs wieder ausgelöst. Man investiert also in Grenzen, um die nicht lukrativen Elemente der zunehmenden zivilisatorischen Zirkulation herauszufiltern. Die Vorzüge der Globalisierung auszukosten, ist uns recht und billig. Sind es jedoch nicht rechte Geldströme und billige Güter, die sich bewegen, sondern Menschen, so wehren wir ab: Eben doch Jedem das Seine.

 

Damit sich diese politisch-ökonomischen Schliessmuskelmechanismen zuverlässig in den Einwanderungsregulierungen und Ausschaffungspraktiken der bessergestellten Nationen manifestieren, bedarf es nicht zuletzt der ausdauernden und anspruchsvollen Arbeit pseudopatriotischer Parteipropagandisten. Die Lebensleistung dieser leidenschaftlichen Leichenfresser besteht darin, die ohnehin schon tollwütige Meute zu entzünden, den geifernden Pöbel aufzuscheuchen, die Hetzjagd anzublasen, Sündenböcke zu suchen und schwarze Schafe zu reissen und sich an der scheusslichen Beute zu weiden, sich dann im appeetitlichen Aas ihres tierischen Erfolges zu suhlen. Dies geschieht indessen jederzeit im Einklang mit den Machtmechanismen des Meinungsmarktes innerhalb der Demokratie der Dummheit: Volksgewollter Erfolg durch rechtspopulistische Postulate, die scheinheilig und schäbig die neoliberale Niedertracht nur notdürftig kaschieren können mit ihrer billigen Anbiederung, dem Generieren gemeinsamer Gegner, die in Wahrheit aber nichts anderes als Gegenbilder der globalisierten Gesellschaft selbst sind, also alles in allem nichts anderes als Lug, Betrug und Heuchelei ohne Ende vermischt mit der Huldigung der Duldung der vollumfänglichen systeminhärenten Selbstverschuldung – das ist die Realpolitik der Stunde!

 

Es ist aber auch ein so faszinierender wie abstossender psychologischer Effekt: nichts fördert das kollektive Selbstbewusstsein effizienter als ein gemeinsamer Gegner. Diese beschämende Erkenntnis kann jederzeit und überall empirisch überprüft werden: Man suche sich einen beliebigen Menschen aus, mit dem man sich nicht besonders gut versteht. Man bringe seine kulturellen, sozialen und ideologischen Idiosynkrasien in Erfahrung. Man hake bei seinen tiefverankerten Abneigungen und Vorurteilen ein und einige sich mit ihm auf ein gemeinsam gefertigtes Feindbild; innerhalb kürzester Zeit wird man sich mit dem Versuchskaninchen zu einem Herz und einer Seele zusammengeschweisst wiederfinden. Im eifrigen Eindreschen auf einen unseligen Dritten finden die besorgten Bürger bestens zusammen, um treu verbündet und erstaunlich geeint sich gegenseitig zum Genuss einer debil dumpfen, aber unfehlbaren Erfahrung von Heimeligkeit und Wut, gesundem Menschenverstand und selbstbestätigendem Geborgenheitsgefühl zu verhelfen. Dies erleben wir dann als unsere politische Identität.

 

Diese Art von Identität ist gänzlich angewiesen auf die Auffassung eines immer im Aussen zu findenden Feindes. Dieser Feind, wenn er auch bei uns eindringt und sich im Inneren einnistet wie ein Bandwurm im Darm, so hat er doch nie etwas mit uns selbst zu tun. Diese auf exogene Gefahr versessene Vorsicht beschränkt sich freilich nicht nur auf Europa mit seiner mythischen und geradezu spektakulären Weitsicht und Umsicht, sondern lässt sich praktisch überall registrieren, wo es materiell etwas zu verlieren gibt, d.h. wo geglaubt wird, dass es tatsächlich darauf ankäme, dass ausgerechnet hier zuerst etwas verloren gehen könnte. In der bedrohlichsten Stunde grösster menschheitlicher Not grassiert die rohe Rottenmentalität rücksichtsloser Raubtiere – das ist, was man offensichtlich unter der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation zu verstehen scheint!

 

Unsere unheilbaren Verlustängste inmitten einer Welt, die geistig und seelisch längst bankrott ist, bedeuten, dass Mitteleuropa in seiner menschlichen Misere für den Rest seiner Endzeit dazu verdammt ist, misstrauisch zu sein. Denn es wird immer welche geben, die materiell schlechter dastehen als wir, und die bei erstbester Gelegenheit über unseren legitim angehäuften Reichtum herfallen würden.

 

Mit Rücksicht auf die vermeintlich christliche Prägung unserer sogenannten Kultur, muss diesbezüglich bemerkt werden, dass der gekreuzigte Erlöser noch so Brot und Fisch dividiert haben mag, auf rührende und wundersam effiziente, aber rechnerisch nicht so recht nachvollziehbare Weise – für uns Durchschnittsbürger der vorgeblich christlichen Kulturen scheint Sein Vorbild jedenfalls keine denkbare, geschweige denn eine machbare Option zu sein. Ohnehin ist unsere Nahrung nicht frei von Sünden, der Fisch radioaktiv und das Brot genmanipulativ. Wirklich wohl bekommen wird dies niemandem mehr.

 

Retten wir besser die Erste Welt! Diese gloriose Oase verlockender Freiheiten inmitten der planetaren Verkommenheit, stoische Festungen, Hochburgen des Fortschritts, die sich unversehens allen möglichen und unmöglichen schädlichen und schändlichen Natur- und vor allem Kulturelementen ausgesetzt sieht: sturmflutartigen Einwanderungswellen, Schlammlawinen schmutziger Flüchtlinge, versengenden Feuern drohender Bombenattentate erstaunlich schlechtgelaunter Extremisten von nah und fern.

 

Eine beklagenswerte Umwelt, die da aus den Unkulturen der unterentwickelten Erdteile hervorgegangen ist! Doch um schützen und sichern zu können, was das Zeug hält, sind auch wir glücklicherweise allzeit zur Grausamkeit bereit: Die Überfülle unsinniger Existenz steht voll und ganz den Launen des nationalisierten Nihilismus zur Verfügung – noch bereitwilliger, wenn diese an die verlässlichen Verlockungen der Konsumgüterindustrie geknüpft sind. Aber wehe, man nimmt dem zivilisierten Menschen das Massenmaterial weg! Er wird unversehens wieder nach einem vielversprechenden Führer, einem charismatischen cowboy, nach dem drastischen Durchgreifen einer starken Hand rufen – und die Erfüllung dieses Wunsches wird nicht lange auf sich warten lassen; sie hat nie lange auf sich warten lassen.

 

Europa hat eindeutige Erfahrungen damit gesammelt, wie nützlich eine Masse voller Schicksal ohne Sinn ist. Aber die Geschichte ist nicht zu Ende und der debilisierte Durchschnittsmensch ist durchwegs disponibel. Er glaubt sich zwar willensfrei und individuell, aber auch das nur, weil er darauf gewartet hat, dass ein liederlich leichtsinniger Liberalismus ihn mit diesem Glauben einlullte. Vollenden wir also feierlich unsere fantastische Freiheit, indem wir Selbstachtung, Würde, Gerechtigkeit und Mitgefühl im schweigenden Meer versenken!

 

Soviel zur ethischen Disposition des mitteleuropäischen Massenmenschen. Sie entspricht heute in etwa der ethischen Disposition eines Rottweilers, den man beim Fressen stört, und ein hungriges Hündchen braucht ein herrschsüchtiges Herrchen. Die grössten Gauner, die grässlichsten Grossmäuler und unredlichsten Redner bieten sich bereitwillig dazu an. Denn angeblich nennen sie die Dinge beim Namen, obwohl das, was dabei herausgequillt kommt, genauso schamlos wie namenlos ist. Aber sie wissen, dass die Masse jubelt, wenn ihr einfache Lösungen und grosses Fressen versprochen werden, und sie wissen wie machtvoll dieser Mechanismus in Zeiten allgemeiner Asozialität, debilisierender Desorientierung und vollendeter Verunsicherung greift. Daher eben stets ein Interesse an permanenter gesellschaftlicher Grundverunsicherung vorhanden ist. Man kultiviere also Ängste und fortifiziere die Grenzzäune! Gipfelpunkt der Geschichte, Quintessenz der Kultur!

 

Sehr wahrscheinlich, dass es wesentlich würdiger gewesen wäre, wenn sich die Menschheit im Zuge des atomaren Wettrüstens einigermassen schnell und schmerzlos aufgelöst hätte! Dieser Gedanke sei hier nicht etwa erwähnt, weil wir das Leben hassten. Genau das Gegenteil ist der Fall: weil wir das Leben liebten!

 

C.S.Rodriguez Chris S. Rodriguez Optimismus für die Endzeit neue Literatur Satire die ultimative systemrelevante Kulturkritik Christian Schmid Rodriguez

Arbeitsmarkt macht frei

 

Um eines vorweg zu nehmen: Dem Autoren dieser Kulturkritik war das persönliche Schicksal bis jetzt äusserst freundlich gesinnt. Der Autor sah sich seit jeher in vorteilhafte Konditionen eingegliedert. Die herrschenden Umstände waren für den Autoren bisher auffällig segensreich. Bei dieser Gelegenheit ein grosses DANKE an die mitteleuropäische Wohlfahrtsgesellschaft – bis zu diesem Punkt.

 

So schwierig ist es schliesslich gar nicht: Wer arbeitsam, fügsam und mit der richtigen Qualifikation zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit einer gültigen behördlichen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und einem gewissen Erwünschtheitsgrad sich in eine Nische der Arbeitswelt integrieren kann, wo die Ausbeutung der eigenen Arbeitskraft nicht gleich allzu ausufernd und zerstörerisch vonstatten geht, hat die Möglichkeit, in eine zwar entfremdete und entfremdende, aber doch irgendwie funktionierende Form des Gebens und Nehmens einzutreten – und sich im besten Falle in die wohlig warme Welt der arbeitsgesellschaftlichen Selbstzufriedenheit zu integrieren.

 

Nichts ist erfreulicher als Selbstzufriedenheit – solange sie nicht ausartet! Dass aber genau diese Gefahr nur allzu gross ist, können wir vortrefflich an uns selbst beobachten, wenn wir von der regelmässigen Selbstverausgabung auf dem Arbeitsmarkt in unsere Wohneinheit zurückkehren, um im Zuge des täglichen mentalen Rekonvaleszenzprogrammes die letzten übriggebliebenen Spurenelemente von Restintellekt in uns mit televisueller Therapie zu bestrahlen. Fernsehen ist dann gleichzeitig lebensnotwendige Erholung und letztmögliche Bildung. Es bildet nämlich das Lebensgefühl von Hunderten von Millionen von Menschen: die anschmiegsame Überzeugung, dass wir das Unsrige für heute erledigt haben, und dass uns alles Recht der Welt auf die programmatische Stupefaktion des televisuellen Terrors zusteht.

 

Wir können es uns nicht übelnehmen: Ein fleissig für sein Geld arbeitendes Subjekt ist nun mal für fruchtbarere Formen der Bewusstseinserweiterung zu geschafft oder einfach nicht geschaffen. Wie gering muss also die Motivation sein, wie klein der Anreiz, sich in den regenerativen Stunden ausserhalb der regulären Arbeitskraftentäusserung noch mit der belastenden Frage zu martern: Ob die Wirklichkeit eigentlich wirklich so sein muss, wie sie sein zu müssen vorgibt. - Die Motivation zu solcher Belastung strebt naturgemäss gegen null, aber das ist kein Zufall, sondern entspricht einer günstigen psychophysikalischen Eigenschaft unsererseits: Eine müde, blöde Masse ist formbarer.

 

Wagen wir eine vorsichtig formulierte These: Arbeitsmarkt macht frei – von philosophischem Problemzeugs. Als arbeitende Menschen brauchen wir nur zu wissen, dass die Zwänge des Kapitals sich mit den Interessen unseres Geistes und den Wünschen unserer Seele decken. Gleichzeitig sind wir frei und können jederzeit das Optimum wählen. Wir sind individuell für uns selbst verantwortlich. Wir sind wunderbar im Einklang mit den Sachzwängen der Wirtschaftspolitik. Wir winden uns vorzüglich flexibel in den Tentakeln der Grosskonzernkraken. Wir sind so vortrefflich realistisch in unserer Selbstaufopferung unter der Diktatur des Neoliberalismus. An nichts soll uns mangeln, wenn wir uns nur demütig den Gesetzmässigkeiten der ökonomischen Gegebenheiten fügen. Wir dürfen bloss nicht stehenbleiben. Wir müssen vorwärtsschauen und voranschreiten. Wir müssen nur stark genug an uns, an die Freuden des Fortschritts und an die Weisheit des Wirtschaftswachstums glauben. Jede Religion fordert nun mal ihre Opfer. Und der Gott des wundersamen Wohlstands ist nun mal ein besonders gefrässiger.

 

Solange wir nicht den bitteren Zynismus unter dem Zuckerguss dieser zerstörerischen Selbstverständlichkeiten schmecken, ist uns eine plumpe und traumlose Narkose garantiert. Wenn nur nicht mit unvorhergesehener Regelmässigkeit der Zuckerguss unter den gelegentlichen Einbrüchen der gehobenen konjunkturellen Stimmung bröselt. Wenn nur die bitteren Momente nicht eintreten, in denen sich die häretische Frage stellt, ob die Lebenskräfte von Milliarden von Menschen und das geballte Potential eines gesamten Planeten nicht besser eingesetzt werden könnten, als damit im Jammertal des sich selbst vollkotzenden Kapitalismus immer tiefer nach noch todbringenderen Werten zu schürfen.

 

Schon längst werden die rechtschaffenen Analytiker den Romantiker im Verneinenden erkannt haben und mit ihrer Vernunftbegabung, stolzen Intelligenz und abstrahierenden Klarheit entgegenhalten, dass es keinen Grund gäbe für weinerliches Wunschdenken und klebriges Moralin; Technik, Markt und Militär lösten alles, wenn man sie nur machen liesse! O fromme Fortschrittsgläubige! Lasset diese Schrift an dieser Stelle zu Boden sinken, denn sie stimmt nicht ein in den schrillen Chor der galligen Selbstgefälligkeit der letzten Einbildungen der Ersten Welt! Allmacht der Ratio, Erhabenheit der weissgewaschenen Kultur, Triumph des Turbo-Kapitalismus, fingierte Freiheit des Westens! Nichts anderes als Vogelscheuchen in teurem Gewand! Sie bewachen vertrocknete Felder, verbrannte Erde, weggebrochenen Grund! Blut und Bodenlosigkeit.

 

Westliche Verstandeskultur? Wie sehr sie zum Sinn beigetragen hat, lässt sich jederzeit empirisch überprüfen. Fröhliche Familienbesuche in der fleischverarbeitenden Industrie bieten sich dazu besonders an. Ebenso gelegentliche Besuche der kanadischen Ölsandabbaugebiete oder die Besichtigung intensivlandwirtschaftlicher Nutzungsflächen im Amazonasgebiet.

 

Auch spontane Abstecher nach Prypjat oder ein Badeausflug zum Karatschai-See garantieren ein Wechselbad der Gefühle und bleibende Eindrücke. Aber wozu in die vergiftete Ferne schweifen? Bleiben Sie zuhause! Lernen Sie die beste aller möglichen Welten kennen, die immer schon vor Ihren Augen liegt, aber niemals gebührend gewürdigt wird. Jeder mitteleuropäische Mensch ist herzlich eingeladen, die Früchte des vielzitierten Verstandes vor seiner eigenen Haustür zu betrachten. Stossen wir doch hier nicht weniger auf fast vollendete Räume rationaler Verwüstung: Überall produzieren Betonwüsten, Schwerindustriezonen, Parkplatzlandschaften, Finanzviertel und fleischverarbeitende Fabriken ausserordentliche Ausmasse an nicht wiedergutzumachender Trostlosigkeit, Übelkeit, Krankheit und Hass.

 

Indessen legt ja Mitteleuropa wie gewohnt und in zunehmendem Masse besonderen Wert auf die besondere Sauberkeit der Oberflächen und vordergründigen Erscheinungen. Und wir verwenden Filter. Vorzügliche Filter. Dies trifft genauso auf unsere ambitiöse Arbeitswelt zu. Gesäuberte Hochkultur und sterile Leistungsgesellschaft, die wir sind, besteht für uns keinerlei Widerspruch darin, innerlich egomanische Mistviecher zu sein und dabei die Maske der durchtriebenen Diskretion und dreisten Diplomatie zu tragen. Daher ist unsere Arbeitsgesellschaft grundsätzlich wohlgeordnet, gepflegt, angenehm im Äusseren, freundlich im Umgang. Doch in ihrem Inneren ist sie ein abstossender Irrtum, ein abartiger Abgrund.

 

In den Fabriken, wo die gescheiterten Geschicke der rationalen Menschheit an die Fertigungsweise maschineller Grossproduktion gekoppelt sind, feiert der technische Verstand seine genauso reibungs- wie freudlose Hochzeit.

 

Auch dem Autoren dieser Verneinung war die desillusionierende Teilnahme an dieser Spielart menschlicher Verdammnis vergönnt, die wir industriellen Massenproduktionsbetrieb nennen. Nur aufgrund ihres anthropomorphen Äusseren aber ist dem Autoren in Erinnerung geblieben, dass er tatsächlich Menschen als Mitarbeitende hatte, und nicht etwa Bluthunde, Giftschlangen oder Aasgeier. Schienen doch seine mitarbeitenden Leidensgenossen in den modrigen Tiefen ihrer malträtierten Seelen von nichts anderem als dem vehementen Trieb besessen zu sein, die jeweils Schwächeren unter ihnen bei Gelegenheit zu fressen, um sich dadurch eine bessere Ausgangslage im arbeitsbetrieblichen Konkurrenzkampf zu verschaffen und gleichzeitig irgendeine unheimliche, undefinierbare, unterschwellige Urwut zu stillen.

 

Diese Situation gab dem in diesen spätkapitalistischen Konzentrationslagern mitarbeitenden Autoren sehr zu denken. Nach seiner teilnehmenden Feldforschung unter hochindustrialisierten Wilden konnte er jedenfalls mit ruhigem, weil stillgelegtem, da zerstörtem Gewissen postulieren, dass

 

1. Schopenhauer tatsächlich Recht hat mit seiner Einschätzung, wonach „die Welt eben die Hölle ist und die Menschen einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin sind.» Des Weiteren die Gewissheit, dass

 

2. die Teilnahme an einer solchermassen gearteten Arbeitswelt, abgesehen von einigen wenigen ökonomischen und sadomasochistischen Vorteilen, schlichtweg sinnzerstörend und lebenszersetzend ist;

 

3. dass der Mensch seine Menschlichkeit, wie auch immer diese metaphysisch definiert sein möge, gar nicht benötigt, um in einer solchermassen gearteten Arbeitswelt zu schalten und zu walten, da die Arbeitswelt ohnehin nur noch die vollendete Unterwerfung aller vitalen Aspekte unter den reibungslosen Betrieb der Maschine und die strengen Erfordernisse des Kapitals verlangt;

 

4. dass wir als Fabrikarbeitende die verlangte Unterwerfung aller vitalen Aspekte am besten möglichst reibungslos umsetzen zur Gewährleistung eines möglichst reibungslosen Betriebes. Nicht etwa, weil wir als Fabrikarbeitende irgendeinen affirmativen Bezug hätten zu dem industriellen Giftmüll, an dessen Produktion wir beteiligt sind; sondern um der Gefahr zu entgehen, als menschliche Angriffsfläche missbraucht zu werden, auf welche missmutige Mitarbeitende und feindlich gestimmte Vorgesetzte ihre geistigen Defizite projizieren, ihre Minderwertigkeitskomplexe ausleben und ihre aufgestauten Frustrationen über ihre sinnlose Existenz abwälzen könnten;

 

5. dass wir uns im Sinne dieser Unterwerfung am Besten in jedem Belang, der über die verlangte Arbeitskraftentäusserung hinausgeht, völlig ignorant und durchwegs stupide darstellen, ja, uns so stumpfsinnig wie nur möglich gebaren, damit wir missmutige und minderwertigkeitskomplexe Mitarbeitende und vor allem oft noch weit missmutigere und minderwertigkeitskomplexere Vorgesetzte bloss nicht spüren lassen, wie minderwertig sie sich tatsächlich machen lassen. Diese Überlegung basiert auf reinem Mitleid: Auf dass die völlig berechtigten Minderwertigkeitskomplexe dieser nur halbwegs und behelfsmässig zivilisierten Kannibalen und ihre durch und durch unausweichliche Frustration über ihre zweifellos völlig sinnfreie Existenz nicht durch unsere Schuld noch vergrössert werde;

 

6. dass Mitleid sehr wichtig und nötig ist;

 

7. dass aber Widerstand auch als etwas Erstrebenswertes erscheint.

 

Dass die Art und Weise, wie die Ludditen im Grossbritannien des 19. Jahrhunderts auf die Herausforderungen der frühen Industrialisierung reagierten (indem sie in die Fabriken einbrachen und die Maschinen in Trümmer hauten) vom Standpunkt der Menschenwürde aus betrachtet auch wohlwollend beurteilt werden kann;

 

8. dass mit menschenwürdig motivierten Formen des Vandalismus heutzutage nicht mehr zu rechnen ist – wenngleich sie in zahlreichen Fällen das einzig Adäquate wären –, weil mittlerweile fraglos klar zu sein scheint, wer am längeren Maschinenhebel sitzt, und sich heutzutage die allgemeine menschenwürdige Motivation doch eher in Grenzen hält, weil wir

 

a) zu realistisch geworden sind, um uns überhaupt nur vorstellen zu können, dass eine andere Welt besser sein könnte als die aktuelle schlechte, oder weil wir

 

b) vielleicht gerade noch zufrieden sind mit der aktuell schlechten Welt, wie sie ist. In diesem Fall möglicherweise sogar, weil wir noch nie das bewusstseinserweiternde Glück hatten, in den Betrieben der industriellen Massenproduktion gearbeitet zu haben, was aber alleine noch kein objektives Argument dafür wäre, dass die herrschenden Umstände es nicht fraglos verdienten, in Stücke gehauen zu werden; des weiteren

 

9. wären, sublimere Varianten, welche uns Duckmäusern und Durchschnittsmenschen, die wir nicht für die rohe Rebellion geboren sind, nicht schon aufgrund ihres schwerwiegenden Sachbeschädigungscharakters abschreckten. Wir könnten beispielsweise versuchen,

 

a) ein paar Tausend Konzernbosse, Finanzbonzen und Industriemagnate der untragbaren Sorte aus dem Weg zu räumen; denn das betrachten wir nicht als Beschädigung, und diese betrachten wir nicht als Sache. Andererseits würden daraufhin vermutlich einfach die nächsten paar Tausend Konzernbosse, Finanzbonzen und Industriemagnate der untragbaren Sorte nachrücken, höchstwahrscheinlich in hochmotivierter Begleitung von Polizei, Militär und Paramilitär. Also was bringts? Es ist ein Dilemma. Dies legt den Schluss nahe, dass wir

 

b) möglicherweise doch zur Machtlosigkeit verdammt und zur Resignation verurteilt sind.

 

Erbärmliche, hoffnungslose Existenzen! Da gehen wir tagein, tagaus, mechanisch und hypnotisiert, in bösartig bedrückende Bunker ein und aus, lassen das Beste unserer Lebensenergie liegen, das Beste unserer Zeit, das Beste unseres Geistes und vor allem: das Beste unserer Seele, damit man uns unseren erbärmlichen Lohn hinwirft wie den Mastschweinen den Frass, und wir kriechen, kriechen, kriechen der Krake hinterher und suhlen uns in ihrem Exkrement ihres Managements, während triumphale Termini wie Teamgeist, Unternehmensphilosophie und corporate social responsibility über unsere Köpfe hinwegzirkulieren, die darüber hinwegblenden sollen, dass in Wirklichkeit doch jeder dem Nächsten die Augen ausstechen würde, um sich dadurch irgendeinen perversen Vorteil zu verschaffen, um in einer hinterlistigen Hierarchie aufzusteigen, die aus nichts anderem besteht als dem planmässigen Erdulden und Praktizieren der Erniedrigung von sich selbst und der Erniedrigung anderer. Nichts von alldem würde funktionieren ohne den jämmerlichen Irrglauben, das stetige Demütigen unserer Persönlichkeit, das Untergraben unserer Einzigartigkeit, das Malträtieren unserer Talente, das Prostituieren unserer Kräfte in täglich tragikomischen Willensakten austauschbarer, undankbarer und absurder Leistungen, würden uns tatsächlich zu geschätzten Mitarbeitern, Mitmenschen, Mitgliedern der Gesellschaft machen. Was den Wettbewerb vorantreibt, ist in Wirklichkeit nicht das individuelle Wollen, sondern das kollektive Scheitern! Dies ist zugleich die Ursache und die Wirkung, die den versagenden Menschen dazu bringt, solches mitzumachen: Seine Not, sein dringendes Bedürfnis, endlich glauben zu können, dass er gebraucht, gewürdigt, geschätzt, – letztlich: geliebt – wird.

 

Doch was für eine Ironie! Als ob der technische Verstand des kapitalistischen Geraffes auf geliebte Menschen angewiesen wäre! Das Geraffe ist an resources interessiert, an brennbaren Energieträgern, und Menschen bestehen auch aus Kohlenstoff. Das Menschenfressen bestimmt den Zeitgeist der Endzeit; aus ihm speist sich das Arbeitsethos im Segen der herrschenden Umstände.

 

Die persönliche Schlussfolgerung, die der Autor aus diesem industriesoziologischen Abstecher in den Kannibalismus ziehen musste, war klar:

 

Meine Seele kriegt ihr nicht.